Raffael. Sixtinische Madonna. Kunstlerischer Gehalt.
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Kunstlerischer Gehalt – Im Idealensinusoid

S.Vologhin.

Raffael. Sixtinische Madonna.

Künstlerischer Gehalt.

Zusammenstoß der zwei Welten - der unseren und der anderen - in einer Darstellung ergibt (so auch Wygotski) die Katharsis. Die ist als Einklang des Irdischen und des Himmlischen zu verstehen.

 

Nun, geben Sie denn zu: das Geheimnis des Künstlerischen ist entschlüsselt.

Darf ich, bitte, mit dem Persönlichen beginnen…

Ich nahm es übel: hat sich Wygotski denn wirklich geirrt?

ich denke, die Irrigkeit von Wygotskis Konzeption über den notwendigen Konflikt zwischen Form und Gehalt in jedem Kunstwerk ist durch von ihm gewählte Kunstart, die Literatur, verursacht.

Bezüglich der Literatur sind seine Schlussfolgerungen weitgehend richtig. Nehmen wir aber malerische Werke als Beispiel und wir werden gleich sehen, dass Form und Gehalt hier häufig in vollem Einklang, nicht in der Opposition zueinander sind..

Versuchen Sie einen Konflikt, einen Widerspruch im Gemälde von Raffael „Sixtinische Madonna“ zu finden:

http://belosnezhka.com/post109158732

Es war bestimmt falsch von Wygotski, dass er nur die eine von vielen möglichen Beziehungen von Form und Gehalt – den Konflikt und Antagonismus, also, – betonte. Zahlreiche Beispiele aus der Malerei, Musik, sowie Literatur fußen auf der völligen Harmonie zwischen Form und Gehalt, ruhen darauf, dass die Form die Idee (die Aufgabe, die Emotion usw.) des Gehalts unterstützt und entwickelt. Der Konflikt, der Widerspruch zwischen Form und Gehalt ist natürlich eine starke und wirkende Beziehung im Werk, aber nicht die einzig mögliche” (http://academyphoto.livejournal.com/13481.html).

Ich versuche doch einen Konflikt zu finden und noch einmal das Recht von Wygotski zu beweisen.

Beginnen will ich mit der Kleinigkeit.

Vom Himmel her geht die Madonna. Vom blauen Himmel her. Nicht gerade auf die Erde, aber doch vom blauen Himmel her. Und das ist ein Durchbruch. Weil im Mittelalter „die goldene Farbe des Hintergrunds auf der Ikone … dem damaligen Betrachter weitgehend wahrheitsgetreu die Farbe des Himmels wiedergibt“. (Lotman. Struktur des literarischen Textes. Moskau., 1970. S. 21).

Diese Ikone ist 1613 aus Rom der katholischen Kirche in Budslau geschenkt.

Der Evangelist Johannes

http://www.oodegr.com/english/istorika/europe/orthodox_evangelists_west_europe.htm

Heilige Kreise (Ikone aus der Schweiz).

Und blicken Sie aufmerksam den blauen – für uns heute natürlichen – Himmel von Raffael an. Der ist voll von Antlitzen der nicht geborenen Seelen! – Das ist ja eben der Widerspruch. Der Zusammenstoß der zwei Welten – der unseren und der anderen – in einer Darstellung ergibt (so auch Wygotski) die Katharsis. Die ist als Einklang des Irdischen und des Himmlischen zu verstehen.

Dies gilt auch für die Madonnagestalt. Diese barfüßige, wegen der scharfen Aufmerksamkeit erschrockene Bäuerin mit dem nicht weniger erschrockenen Kind, das sie möglichst fest – wiederum aus Angst – an sich hält (die rechte Schulter des Kleinen ist sogar etwa gehoben, mit der rechten Hand hält er sich an der Mutter an und will nicht von ihr weggenommen werden). Und diese Bäuerin geht mit angstvollen kleinen Schritten zu uns hin. Zu den sündhaften und gefährlichen (sie weiß es ja: der Kleine muss ans Kreuz genagelt werden!). Aber nicht die übersinnliche Ahnung ist die Ursache ihrer Angst: sie ist ja eine schwache Frau und kennt schon das Leben wie jedermann.

Das ist einerseits.

Andererseits schwebt sie ja hinein. Mit so einer Geschwindigkeit, die viel zu groß für ihre kleinen Schritte ist. Deswegen verhält sich der Stoff ganz widersprüchlich. Der Strom, der sie hinein bringt, lässt den Vorhang zu uns hinrollen, die schweren päpstlichen Gewandschöße bauschen sich wie die Segel, der Saum und der Hänger von St.Barbara flattern im Winde. Andererseits wird ja die Madonna auch von einer anderen Kraft getragen, die sie den Luftwiderstand überwinden lässt. Und es schlagen nach hinten ihr Hänger und die Schöße Ihres blauen Mantels.

Alltäglichkeit und … Wunder. Bäuerin und … majestätische Gottesmutter.

Ein neuer Widerspruch.

Und aus diesem Zusammenstoß – das Ideal: nicht so, dass der Wert des Menschen bis zu dem göttlichen erhöht wird (das wäre ja Hochmut, Gotteslästerung), sondern der Einklang des Körperlichen und des Geistlichen.

Dies gilt auch für die Perspektive.

Ihre Gesetze sind zu jener Zeit schon bekannt. Und sie fordern den einen Fluchtpunkt für das ganze Bild. Bei Raffael finden wir die drei Punkte: für die Engel unten, für Papa Sixt II. und St.Barbara in der Mitte und für Madonna. Es gibt drei Wahrnehmungshorizonte für den Betrachter. Und seine Seele schwebt beflügelt auf.

Und gleichzeitig sind die Körper auf jeder Ebene so dargestellt, wie sie nur er, der Betrachter, der auf dem Boden vor dem Bild steht, sehen kann, um auf jede der nacheinander folgenden Ebenen zu geraten.

Und die von links nach rechts zu lesen gewohnten Augen gleiten von unten, von den Engeln, nach oben hin, zuerst an der Papstfigur vorbei, dann zum Gesicht der Gottesmutter, ihres aufgeblasenen und gewölbten Umhangs, nach unten, zu Barbara, die ihrerseits noch tiefer nach unten schaut, auf das rechte Engelchen hin. Und davon streben die Augen wieder nach oben. Noch höher. Und so entsteht ein Kreis. Diese vollendete geometrische Figur. Und Sie fühlen die Neigung, in die Trance zu verfallen. Aber Sie verfallen nicht.

Die Harmonie wird von Ihnen erlebt. Aber - aus der Widersprüchlichkeit der Erlebnisse.

Wie entsteht die Täuschung, dass es kein Konflikt zwischen Elementen und dem Widergefühl existiert? Weil als Schlusserlebnis Katharsis auftritt. Der Mensch, der nicht analysieren kann (und so sind die meisten), lässt die Erscheinungen außer Acht, die den Endeffekt mitschaffen. So könnte man, z.B., beim Betrachten eines Schwimmers (über den Fluss) – wenn man die Aufmerksamkeit konzentriert – auf der Wasserfläche ein Strudelchen vom Handzug, eine Spur von der vor einer Sekunde aus dem Wasser hervorgezogenen Hand bemerken und es beobachten und den Flussstrom sehen, und ihn von der Schwimmrichtung des Schwimmers unterscheiden, das ist möglich, aber recht schwierig; und so sehen wir den Schwimmer, der über den Fluss schwimmt … schief gegen Flussufer. So will er halt. Oder ein anderes Beispiel. Ein kleines Mädchen mit dem zweirädrigen Fahrrad: es fährt zu schnell bis zur Kreuzung und wirft da das Steuer herum, um zu biegen, wie beim Fußgehen; und jemand Unsichtige riss das Kind weg vom Fahrrad aus; und es fiel und weinte; noch darum, weil es nicht wusste, auf wen sie sauer sein sollte; und konnte den anlaufenden Vater nicht verstehen, der etwas über die Beharrungskraft erklärte.

In unserem Fall, um den Konflikt zu bemerken, muss man sich z.B. in die Psychologie der Leute einleben, die 1516 (das Jahr, in dem das Bild geschaffen wurde) gelebt haben. Das sind doch gläubige Leute, bei denen zu Hause die Ikonen mit gar nicht solchen Gesichtern und Figuren der Gottesmutter, wie bei Raffael, hängen, und die wissen, dass erst vor kurzem der Papst Julius II. die Vision der Gottesmutter mit dem Jesus Christi, wie auch mal Sixt II. und Barbara, erlebt hat. Andererseits sind es die Italiener, die auf ihren Straßen in Piacenza dieselbe nahe, nach dem Schnitt des Gesichts, schöne Frauen sehen, schlanke, mit steilen Hüften oder korpulente, mit lässigen oder ordentlichen, bekannten Frisuren, und gebeugte Greisen mit der Tonsur (mit dem rasierten Scheitel, Merkmal der katholischen Geistlichen), gewöhnlich angezogenen und gewöhnlich nackten Babys. Diese mittelalterlichen Italiener wurden wahrscheinlich wahnsinnig, indem sie solche Entsprechung des Gewöhnlichen dem Ungewöhnlichen sahen. Und der heutige Atheist oder jemand andere, der das Kreuz auf der Brust rein formell trägt, bemerkt gar keinen Unterschied. Geschweige drei Horizonte zu bemerken…Und über den Fluchtpunkt zu wissen…

Es gibt noch einen Unterschied. Die Kunstwissenschaftler vermeiden es aus einem verständlichen Grund, Wygotskis Verfahren zu verwenden und die Werke als widersprüchlich zu beschreiben. Über Hohe Renaissance weiß man noch von der Schulbank an (wenn noch), dass sie Harmonie in den Werken zum Ausdruck brachte. Aber über andere Stile und Epochen gibt es keine solche Einstimmigkeit im Bezug auf ein Wort, das das Gesamtideal der Epoche ausdrückte. Die Wissenschaftler diskutieren. Und sie selbst sind – die Vertreter der so genannten Neuzeit und der Neuesten Zeit. Die Wissenschaft ist für die, was mit den materiell existierenden Dingen zu tun hat. Und die Katharsis ist doch in den Werken nicht explizit gegeben. Sie geschieht ja in der Seele des Kunstkonsumenten, und ist sozusagen nicht zum Zitieren. Das, wofür ein Kunstwerk geschaffen ist, existiert nicht materiell. Und für die Wissenschaftler geht „das“ als Forschungsgegenstand verloren. Ich kenne einen Doktor der Philologie, der ganz ernst gesagt hat, dass er nicht weiß, was der künstlerische Gehalt ist. Ich selber, anschließend Wygotskij, meine, dass der künstlerische Gehalt das Ergebnis der Nachwirkung der Kunst ist, der Nachwirkung, die darin besteht, dass aus dem Unbewussten, in dem die Katharsis halb, wenn nicht mehr, versunken ist, ins Bewusstsein hineinzuführen. Ich selber kann es mir leisten, über das Wichtigste im Kunstwerk als über das nicht zitierbare Ergebnis des Widerspruchs zu sprechen, und der Wissenschaftler kann es nicht. Er kann disqualifiziert werden, und wie soll er dann das Lebensbrot verdienen? Und überhaupt, wenn auch kein Geld, kann man ja auch den Namen verlieren. Deshalb schreibt man nur über das im Werke materiell Existierende. Wenn man auch über Katharsis spricht, so nicht unbedingt als über das Ergebnis der Widersprüche. Wir lesen solche Arbeiten und gewöhnen uns daran, dass wenn es auch die Widersprüche gibt, sind sie beim Einschätzen des Künstlerischen nicht das Wichtigste. Wygotskij allein kann nicht alle anderen Wissenschaftler überschreien und uns aufklären.

So leben wir, im Halbdunkel.

23. Dezember 2010

Nathania. Israel.

Zum ersten Mal veröffentlicht unter Adresse

http://www.codistics.com/sakansky/paper/volojin/solomon14.doc

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